THEORIE TRIFFT PRAXIS
Das Präsenzkonzept der neuen Autorität im pädagogischen Alltag einer stationären Wohngruppe für Kinder und Jugendliche
Der Erziehungshilfeverbund Gerburgis implementiert seit 2012 systematisch mit Hilfe u.a von Inhouse Schulungen und Coaching und kollegialer Beratung das Konzept der Neuen Autorität in seine Arbeit. Hier wird der Anatz exemplarisch an der Arbeit einer stationären Wohngruppe vorgestellt.
Das Konzept der Neuen Autorität oder auch Präsenzkonzept genannt, baut auf 7 Säulen auf:
- Präsenz und Wachsame Sorge: "Ich bin da. Ich nehme aktiv und respektvoll an Deinem Leben teil! Ich bleibe da auch wenn es schwierig wird. Ich lasse Dich nicht allein!"
- Selbstkontrolle und Deeskalation: "Ich kann Dich nicht zwingen oder kontrollieren. Ich kämpfe um Dich und nicht gegen Dich!""Ich kann mich und mein Verhalten in Konfliktsituationen kontrollieren!" "Ich schmiede das Eisen wenn es kalt ist!"
- Neztwerke und Bündnisse: "Ich bin nicht allein. Ich kann mir Hilfe und Unterstützung organisieren!"
- Gewaltloser Widerstand: "Wir sind entschlossen das problematische Verhalten zu stoppen und ergreifen gewaltlose Widerstandsmaßnahmen!"
- Versöhnungs- und Beziehungsgesten: Alles was wir tun, dient der Wieder-Herstellung und Intensivierung einer positiven Bindung und Beziehung zum Kind / Jugendlichen
- Transparenz und Öffentlichkeit: "Wir beziehen andere (Beteiligte) in die Lösung der Probleme mit ein!"
- Wiedergutmachung: "Wo Schaden ist, muss es Entschädigung geben!"² ³
Für eine Einrichtung der stationären Kinder- und Jugendhilfe ist das Präsenzkonzept aus unserer Sicht sehr hilfreich, weil es uns erstens zu einer wertschätzenden und gewaltfreien und bindungsstarken Erziehung verpflichtet und uns zweitens im Umgang mit herausforderndem Verhalten von Kindern und Jugendlichen nicht alleine lässt. Wir bleiben handlungsfähig und sind unabhängig von der Mitwirkung der Kinder / Jugendlichen.
Anhand des methodischen Hilfsmittels der Unterstützernetzwerke soll hier beschrieben werden, wie sich das Konzept ganz praktisch in den pädagogischen Alltag einer Wohngruppe für Jugendliche umsetzen lässt. Hier sei darauf hingewiesen, dass die Grundhaltung und der pädagogische Ansatz der Neuen Autorität sich nach unserer Erfahrung grundsätzlich auf den Umgang mit den vielen Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen und den damit nicht selten verbundenen Konfliktsituationen, die Erziehung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit traumatisierenden Lebenserfahrungen mit sich bringen, übertragen lässt.
Es braucht ein ganzes Dorf um ein Kind zu erziehen!
Netzwerke und Bündnisse
Die zentrale Aufgabe einer Jugendhilfeeinrichtung ist es, den ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen einen sicheren Lebens- und Entwicklungsort anzubieten. Gerade Kinder und Jugendliche mit traumatisierenden Lebenserfahrungen stellen mit ihrem häufig sehr aktiv und dominant ausgeprägten herausforderndem Verhalten die Mitarbeitenden in den Wohngruppen vor nicht unerhebliche Schwierigkeiten, die o.g. Aufgabe zu realisieren. Damit einher gehen Sorgen, Ängste und Scham der Mitarbeitenden den eigenen und institutionellen fachlichen Ansprüchen nicht zu genügen und erlebte und / oder befürchtete Ohnmacht im Umgang mit dem herausforderndem Verhalten. Dies wiederum kann zum "totschweigen" der Probleme, weiteren symetrischen Eskalationen zwischen Pädagoginnen / Pädagogen und dem Kind / Jugendlichen mit Abbruch der Hilfe und selbstgewählter Isolation einzelner Mitarbeitender oder ganzer Teams führen.
Das was ich tue ist richtig und wird unterstützt!
Wenn es gelingt, dass Pädagoginnen und Pädagogen für die Bearbeitungen des herausfordernden Verhaltens Unterstützer gewinnen, ändert sich das Erlebnis der Scham und Isolierung von Grund auf. Durch das Rekrutieren der UnterstützerInnen verändert sich die Position der Pädagogen und Pädagoginnen fundamental4. Sie werden nun zu aktiv handelnden "AnführerInnen" des gewaltfreien Kampfes um das Kind / den Jugendlichen. UnterstützerInnen können KollegInnen aus anderen Wohngruppen, KlassenlehrerInnen, SchulsozialarbeiterInnen, TrainerInnen, MitarbeiterInnen des Jugendamtes, Eltern und Verwandte (wenn der Schutzauftrag es zulässt!), Freunde und Bekannte (wenn der Schutzauftrag es zulässt!) sein. Nach dem Konzept der Neue Autorität geht der Gründung eines Netzwerkes eine schriftliche Ankündigung des Teams voraus.In der Ankündigung benennt das Team die problematischen nicht mehr zu tolerierenden Verhaltensweisen, seine Entschlossenheit sich gewaltfrei und respektvoll aber entschieden dem Verhalten in den Weg zu stellen und damit transparent umzugehen indem das Team Menschen die Kind / Jugendlichen wohlgesonnen sind bittet, es beim Kampf um das Kind / den Jugendlichen zu unterstützen.Im Anschluss daran überlegt das Team gemeinsam, wer informiert werden soll/muss und wer als UnterstützerIn aktiviert werden kann. Dann werden die Unterstützertreffen geplant und es erfolgt die schriftliche Einladung zu einem ersten Unterstützertreffen. Selbstverständlich wird auch das betroffene Kind / der betroffene Jugendliche zu den Treffen eingeladen.
Auf den Unterstützertreffen geht es dann darum, gemeinsam mit allen Beteiligten:
- Sich grundlegend auf gemeinsame Werte wie Schutz, guter Kontakt zum Kind / Jugendlichen, Ressourcennutzung und Wertschätzung, zu verständigen (keine Vorwürfe und Belehrungen)
- Die unterschiedlichen Sichtweisen auf das problematische Verhalten zu erfragen
- Ein gemeinsames Vorgehen bei Problemen zu besprechen
Von jedem Unterstützertreffen wird ein Protokoll verfasst. Dieses wird allen Beteiligten (auch dem Kind / Jugendlichen) ausgehändigt. Zum Abschluss des Unterstützungsprozesses erhält jede Unterstützerin / jeder Unterstützer einen Dankesbrief. Das betroffene Kind / der betroffene Jugendliche erhält ebenso einen Brief von allen Beteiligten. In diesem Brief werden die Fortschritte benannt und gewürdigt. Außerdem geben alle UnterstützerInnen dem Kind / Jugendlichen ihre guten Wünsche für die Zukunft mit auf den Weg.
FALLBEISPIEL Ausgangslage
Ch. (17 Jahre) lebt seit ca. 4 Jahren Wohngruppe für Mädchen im Alter von 12 - 18 Jahren. Seit mehreren Wochen zieht sich Ch. aus dem Gruppenalltag zurück, besucht die Schulersatzmaßnahme nicht mehr und ist sehr häufig abgängig. Nachdem das Team in der ersten Zeit versucht hat, die Probleme eigenständig zu lösen, entschied man sich, dass Ch. Unterstützung von allen für sie wichtigen Personen brauchte. Nachdem die erziehungsberechtigte Mutter über die Entscheidung informiert wurde, musste eine Unterstützerliste aufgestellt werden. Dann wurden die Unterstützer darüber informiert, dass das Team der WG in der Arbeit mit Ch. ihre Unterstützung benötigte. Im zweiten Schritt wurde das erste Unterstützertreffen vorbereitet und durchgeführt. Ch. wurde von der Bezugsbetreuerin über das Treffen informiert und auch dazu eingeladen. An diesem Treffen nahmen die Mutter, die Schwester, die Bezugsbetreuerin und als passive Zuhörerin Ch. teil. Das Treffen fand im Haushalt der Mutter statt.
Der Ablauf der Unterstützertreffen hatte immer folgende Struktur:
- Die Bezugsbetreuerin bedankte sich bei allen UnterstützerInnen für die Teilnahme.
- Gemeinsam werden die für Ch. wichtigen Themen gesammelt.
- Gemeinsam wird überlegt, welche Sorgen es gibt, welche Unterstützung Ch. benötigt, was im Unterstützernetzwerk schon gut läuft und welche Veränderungsbedarfe es gibt.
- Ein neuer Termin wird verabredet.
- Es wird ein Protokoll vom Unterstützertreffen erstellt und an weitere Unterstützer versandt.
Nach dem ersten Treffen folgten noch insgesamt 2 weitere Unterstützertreffen an denen dann auch der zuständige Jugendamtsmitarbeiter und eine Mitarbeiterin der Schulersatzmaßnahme teilnahmen. Ch. nahm freiwillig an allen Treffen als Zuhörerin teil. Zum Abschluss des Prozesses bekamen alle Unterstützer einen Dankesbrief in dem das Team sich für die Zusammenarbeit bedankte und besonders betont wurde, wie wichtig die Unterstützung für Ch. war.
Beispiel (Brief an den Mitarbeiter des Jugendamtes)
"Sehr geehrter Herr L,
wir möchten Ihnen mitteilen, dass Ch. im Gruppenalltag wieder sehr präsent geworden ist. Ch. schafft es pünktlich in der Gruppe zu sein und wiederzukommen. Auch die Schulersatzmaßnahme besucht sie mit viel Freude. Es ist eine tolle Entwicklung zu sehen. Diese konnte durch Ihre Unterstützung so positiv wachsen. Vielen Dank für die gute Zusammenarbeit, Ihren Einsatz und den engen Austausch. Sie sind für uns ein sehr wichtiger Unterstützer in der Arbeit mit Ch. Wir möchten uns herzlich bei Ihnen bedanken und hoffen weiterhin auf eine so gute Zusammenarbeit.
Liebe Grüße,
Unterschriften des gesamten Teams"
Auch Ch. bekam von allen Unterstützern einen Brief in dem ihre Erfolge gewürdigt wurden.
"Liebe Ch.,
wir erleben Dich als sehr zuverlässig und motiviert. Du triffst mit uns Absprachen, setzt dir Ziele und verfolgst diese. Wir sind sehr erfreut, dass du so präsent im Gruppenleben bist. Du tust der Gruppe und uns mit deiner positiven Einstellung, deiner Begeisterungsfähigkeit, deinem Ideenreichtum und deiner Le-bensfreude sehr gut. Schön, dass du auch gemeinsam mit deinem Freund die Zeit in der Gruppe verbringst. Wir erleben eine sehr positive Entwicklung eurer Beziehung und wissen, dass er dir sehr viel Halt gibt. Es ist toll zu sehen, dass du mit Freude die Schule besuchst und demnach verantwortungsvoll an deine Zukunft denkst. Wir werden dich in deinem Ziel, einer eigenen Wohnung unterstützen. Indem wir weiterhin regelmäßig Unterstützertreffen organisieren, im nächsten HPG dieses Ziel besprechen und planen werden und alle wichtigen Schritte begleiten. Liebe Ch. wir sind sehr stolz auf dich. Du sollst wissen, dass du uns sehr wichtig bist und wir immer für dich da sind."
Fazit
Wenn Pädagoginnen und Pädagogen für die Bearbeitungen des herausfordernden Verhaltens Unterstützer gewinnen, werden sie zu aktiv handelnden "AnführerInnen" des gewaltfreien Kampfes um das Kind / den Jugendlichen.
Wenn es ihnen gelingt ihre Haltung aufrecht zu halten, unabhängig von den erhofften Verhaltensveränderungen bei den Kindern und Jugendlichen, wird Beziehung und Wertschätzung als echt empfunden und ermöglicht so, eine günstige Entwicklung des Kindes / Jugendlichen.
Auch die Kinder / Jugendlichen erleben den offenen Umgang mit ihren Verhaltensproblemen und die im Unterstützernetzwerk gelebte Haltung von gewaltfreiem Widerstand und Respekt, als beziehungsstiftend, vertrauensbildend und Sicherheit vermittelnd.
Hintergrund:
Das von dem israelischen Psychologieprofessor Haim Omer als Handlungskonzept bei hocheskalierenden Kindern und Jugendlichen in Familien entwickelte Konzept der Neuen Autorität, überträgt die Grundhaltungen und Vorgehensweisen des Gewaltfreien Widerstandes (Mahatma Gandhi und Martin Luther King) auf ein Erziehungskonzept, dessen wesentliche Grundhaltung in absoluter Gewaltfreiheit und unbedingter Wertschätzung des Kindes besteht und das davon ausgeht, dass die natürliche Autorität von Eltern / ErzieherInnen nicht allein aus ihrer Rolle oder Funktion als Eltern / ErzieherInnen, sondern durch die Verbindung von wertschätzender, wachsamer (Für-)Sorge, einer Haltung der Verantwortlichkeit und einer im Konfliktfall nicht lockerlassenden Beharrlichkeit erwächst. 1
AUTOREN:
Jürgen Borgert (Leitung des Bereiches Stationäre Hilfen zur Erziehung im Erziehungshilfeverbund Gerburgis)
Charlotte Teschlade (Erzieherin in einer Wohngruppe für Mädchen im Altern von 12 - 18 Jahren)
Quellen:
1 Martin Kramm (2014); Handbuch der Hilfen zur Erziehung
2 Haim O. / Schlippe, A.von (2012); Autorität durch Beziehung.
3Haim O. / Schlippe, A. von (2010); Autorität ohne Gewalt
4 Haim O. / Schlippe, A. von (2010); Stärke statt Macht
5 Personendaten anoymisiert